Kolonienbildung bei Asterionella formosa

Diatomeen der planktisch lebenden Art Asterionella formosa (deutsch: Schwebesternchen) wurden im Fluss Neckar (49°04'41.8 N 9°09'17.9 E) gefunden. Da planktische Organismen typisch nicht in Fließgewässern

vorkommen, stammen sie vermutlich aus vorgelagerten Staustufen. Wie der Name Asterionella besagt, bilden sie sternförmige Kolonien. Links sei nochmals die Bildergalerie aus der Einführung gezeigt.
Für Phytoplankton ist es meist wichtig, eine möglichst geringe Sinkgeschwindigkeit zu besitzen. Wegen der geringen Größe von Organismen und Kolonien wird die Reibungskraft gut durch das Gesetz von Stoke beschreiben (kleine Reynolds-Zahlen). Die Sinkgeschwindigkeit ist damit proportional zum Dichteunterschied von Phytoplankton und umgebendem Wasser und umgekehrt proportional zum Formwiderstand, der von der Geometrie des sinkenden Körpers abhängt (Ostwald 1912). Sternförmige Strukturen besitzen einen hohen Formwiderstand in Vergleich zu einer Kugel gleichen Volumens. Judit Padisák et al. (*) haben durch Versuche mit unterschiedlich geformten Modellen experimentell gezeigt, dass der Formwiderstand von Asterionella mit der Zahl der Diatomeen im Stern bis zu 6 Diatomeen steigt und danach in etwa konstant bleibt. Abweichungen von der Symmetrie, d.h. ungleiche Winkel verringern den Formwiderstand.

Sternförmige und zick-zack-förmige Kolonien verschiedener Arten können sich hinsichtlich der Verkettung benachbarter Diatomeen (Verbindungsstellen), der Winkel zwischen benachbarten Diatomeen und der Längen der Ketten unterscheiden. Entsprechend unterschiedlich sind die Regeln, die zur Musterbildung oder Morphogenese auf der Ebene der Kolonien führen. Asterionella formosa besitzt vermutlich die einfachsten möglichen Bildungsgesetze. Dies liegt daran, dass sich die Verbindungspunkte benachbarter Diatomeen stets am selben Apex befinden. Daher kann es auch nur eine Möglichkeit der Trennung benachbarter Diatomeen geben. Sternförmige Kolonien gehen bei Teilung stets in sternförmige Kolonien über. Eine Synchronizität der Teilungen ist dafür nicht erforderlich (keine Übergangsformen). In der nachfolgenden Fotomontage ist das exemplarisch dargestellt. Bei der sternförmigen Kolonie links steht ein Diatomeen-Paar unmittelbar vor der Aufspaltung in eine V-förmige Struktur. Wirken keine äußeren Kräfte, wie im dargestellten Fall, so geschieht diese Öffnung in kurzer Zeit verglichen mit der Generationsdauer. Im mittleren Bild ist die Aufspaltung erfolgt (Winkel α > 0) und dadurch verkleinert sich der Winkel β zwischen den beiden Diatomeen an den Enden der Kette. In der Folgezeit wächst der Winkel α und β verringert sich entsprechend.

Zur Vereinfachung wird dabei angenommen, dass sich während des dargestellten Prozesses keine weitere Teilung ereignet und die anderen Winkel unverändert bleiben. Die beiden Hälften drehen sich dann als starre Einheit gegeneinander. Im dargestellten Fall kommt es zur Berührung der Diatomeen an den Enden der Kette an den Apices im Zentrum des Sterns (markiert durch kurzen Pfeil). Sofern die Enden der Kette nicht übereinander gleiten, was man häufig beobachtet, führt jede weitere Vergrößerung von α und jede weitere Teilung zu mechanischen Spannungen in der Kette. Dies kann zur Veränderung von Winkeln in der Kolonie und schließlich zum Bruch der Kette führen, so dass zwei neue Kolonien entstehen. Auch wenn die Enden übereinander gleiten, kommt es bei weiteren Teilungen irgendwann zum Verhaken von Diatomeen und zum Bruch der Kette. Dabei können auch Drehungen der Teilketten im Raum beobachtet werden. Die Kolonien liegen also nicht immer in der Ebene des Substrats. Durch die früher oder später auftretenden Brüche wird die Größe der Kolonien begrenzt. Das Zerbrechen von Kolonien scheint in aller Regel die Folge äußerer Spannungen zu sein, aber auch ein spontanes Brechen bei älteren Verbindungsstellen ist nicht auszuschließen.

Aus einer betrachteten Diatomee entstehen durch die Verdopplung der Anzahl der Diatomeen pro Generation schnell längere Folgen, die in Stücke brechen. Da die Teilungen über einige Generationen hinweg näherungsweise synchron erfolgen, beobachtet man häufig, dass nach einer längeren Phase ohne Teilungen (etwa eine Generationszeit) die Teilungen in schneller Folge geschehen.

Die asymptotisch erreichten Öffnungswinkel schwanken stark, so dass man auch kleinere regelmäßige Kolonien mit ähnlichen Winkeln vorfindet, sowie Gebilde mit weit mehr als 8 Diatomeen. Sternförmige Kolonien aus 8 Diatomeen sind häufig zu beobachten und werden in der Literatur oft dargestellt.

Jede Teilung beginnt mit einem plötzlichen Aufklappen der benachbarten Diatomeen zu einer V-förmigen Struktur. Offenbar hat sich in den EPS-Pads an Gelenken eine mechanische Spannung aufgebaut, welche die Adhäsionskräfte zwischen neu gebildeten Diatomeen übertrifft. Danach verläuft die Zunahme des Öffnungswinkels gleichmäßig, wobei die Winkelgeschwindigkeit abnimmt.

Ohne Kollision zwischen Teilen der derselben Kette oder mit anderen Objekten wird der Endwinkel asymptotisch erreicht. Ein solches Verhalten wurde auch bei allen beobachteten Diatoma-Spezies (D. tenuis, D. eherenbergii, D. vulgaris) beobachtet. Im nachfolgenden Video links sieht man in 1500-fachem Zeitraffer die Aufspaltungen einer Kette, die anfangs aus vier Diatomeen besteht. Rechts daneben sind die Öffnungswinkel der vier Diatomeen in Abhängigkeit der Zeit dargestellt. Der Moment der Aufspaltung wurde jeweils auf den Ursprung der Zeitachse gelegt. Es gibt deutlich erkennbare Unterschiede zwischen den Funktionen.

Die bei der plötzlichen Öffnung angenommenen Winkel betragen in der angegebenen Reihenfolge 17°, 23°, 17° und 19°.

Eine Reihe weiterer Beobachtungen von Teilungen sind in den nachfolgenden Zeitraffer-Videos (Zeitrafferfaktoren 1500 und 1600) zu sehen. Das obere Video links zeigt einen größeren Ausschnitt einer noch wenig dichten Kultur. Die einzelnen Trennungsprozesse sind bei höherer Vergrößerung besser erkennbar.

Zusammenfassend sei angemerkt, dass bei A. formosa die Bildung der für geringe Sinkgeschwindigkeit vorteilhaften sternförmigen Struktur durch einen einfachen Aufspaltungsprozess und einen Bruchmechanismus infolge mechanischer Spannungen erreicht wird. So gesehen hat A. formosa Modellcharakter und ist ein guter Ausgangspunkt für Untersuchungen an anderen sternförmigen und zick-zack-förmigen Kolonien.

 

(*) Padisák, J., Soróczki-Pintér, É., and Rezner, Z. (2003) Sinking properties of some phytoplankton shapes and the relation of form resistance to morphological diversity of plankton—an experimental study. Hydrobiologia 500(1), 243-257.