Nitzschia sigmoidea auf der Wasseroberfläche schwimmend (4-facher Zeitraffer)

Nitzschia sigmoidea bei Bewegung auf einem Substrat (10-facher Zeitraffer)

 

Nitzschia sigmoidea an der Wasseroberfläche

Im Jahr 2015 kultivierten wir Nitzschia sigmoidea aus dem Aichstruter Stausee und dem Flüsschen Lein, seinem Abfluss. Im Herbst 2016 konnte ich sehr große Exemplare (360 µm) aus einem Teich bei Stuttgart-Hohenheim kultivieren.

Es zeigte sich, dass dicht besiedelte Kulturen viele schwimmende Diatomeen aufwiesen. Die Bewegungsmuster dieser Diatomeen und die beobachtbaren Eigenschaften erschienen so bemerkenswert, dass sie der eigentliche Grund für den Beitrag über schwimmende Diatomeen sind.

Die schwimmenden Nitzschia sigmoidea sind in Anbetracht ihrer Größe mit bloßem Auge sichtbar. Die Beobachtung der Bewegung kann deshalb gut mit einem Stereomikroskop erfolgen. Für Details ist ein inverses Mikroskop mit Phasenkontrast oder DIC zweckmäßig. Die Beobachtung wird oft erschwert durch Konvektion in der Petrischale, welche durch die Beleuchtung verursacht wird. Es ist sehr hilfreich, einen zylindrischen Ring zur Verringerung der Konvektion einzusetzen. Links oben ist eine Zeitraffer-Videoaufnahme von schwimmenden Diatomeen aus dem Aichstruter Stausee zu sehen, die im Dunkelfeld mit einem Stereomikroskop aufgenommen wurde. Zum Vergleich ist oben rechts die Bewegung auf Substrat zu sehen. Für Leser mit näherem Interesse an den Bewegungsabläufen sind einige weitere Videos auf einer eigenen Seite zusammengestellt.

Bei einer frisch angelegten Kultur ist das Phänomen der schwimmenden Diatomeen nach etwa 2 bis drei Wochen augenscheinlich, wobei die ersten vereinzelten schwimmenden Diatomeen oft schon nach einer guten Woche zu finden sind. Bei einer voll entwickelten Kultur können zusammenhängende Gebilde entstehen, die einen Großteil der Wasseroberfläche bedecken. Es gibt Kulturen, bei denen die Anzahl der Diatomeen an der Wasseroberfläche ein Mehrfaches derer auf Substrat beträgt.

Während bei senkrechter Sicht auf das Substrat diese Spezies gelegentlich in Valvenlage anzutreffen ist, findet man sie auf der Wasseroberfläche nie in Valvenlage , sondern ausschließlich in Gürtelbandlage. Dies ist für eine schwimmende Nitzschia sigmoidea die Gleichgewichtslage. Eine Möglichkeit, sich auf der Wasseroberfläche um die Apikalachse zu drehen, scheint hier nicht zu bestehen.

Es stellen sich dieselben Fragen, wie sie bereits im Zusammenhang mit den schwimmenden Cymatopleura solea diskutiert wurden.

Wie kommen die Diatomeen an die Wasseroberfläche?

Augenscheinlich führen bereits geringe Strömungen zum Ablösen von Nitzschia sigmoidea vom Substrat. Es spricht einiges dafür, dass das Tragen der Kultur zum Mikroskop eine wesentliche Rolle für den Transport der Diatomeen an die Oberfläche ist. Da die Diatomeen offensichtlich nicht wieder absinken, akkumulieren sie sich an der Wasseroberfläche. Ob damit das Phänomen ausreichend erklärt ist, müsste man in einem Kulturversuch mit ruhender Kultur überprüfen.

Können die Diatomeen längere Zeit an der Wasserobefläche überleben?

Diatomeen der Art Nitzschia sigmoidea können offenbar an der Wasseroberfläche viele Tage überleben und sich sogar dort ungeschlechtlich vermehren. Die manchmal geringe Anzahl von benthisch lebenden Diatomeen würde sonst nicht die schnelle Zunahme der Diatomeen an der Wasseroberfläche erklären. Zudem ist auf einigen Videoaufnahmen ein hoher Anteil von Diatomeen im Vorgang der Teilung auszumachen. Ob die Wasseroberfläche tatsächlich in der Natur ein Habitat ist, möchte ich damit nicht behaupten.

 

Warum sinken Diatomeen der Spezies Nitzschia sigmoidea nicht zu Boden?

Im Phasenkontrast erkennt man an den meisten Apizes ausgeprägte Aufhellungen.

Signifikante Helligkeitsänderungen treten auch bei differentiellem Interferenzkontrast (DIC) auf (Bild links - zum Vergrößern anklicken). Dies deutet auf Phasenobjekte hin, die auf unterschiedlichen optischen Weglängen beruhen. Unter dem Stereomikroskop kann man bei schrägem Blick auf die Wasseroberfläche erkennen, dass diese um die Apizes herum gewölbt ist. Es besteht ein mehr oder weniger ausgeprägter konvexer Meniskus, der das Erscheinungsbild im Phasenkontrast und DIC erklärt. Die Diatomee liegt dabei tief im Wasser. Es ist nicht einfach, das zu fotografieren. Mit einiger Mühe gelingen Aufnahmen mit Hilfe eines Spiegels, der in die Petrischale mit der Kultur eingesetzt wird. Seine Neigung wird so eingestellt, dass die Wasserfläche unter einem flachen Winkel beobachtet wird. Die Anordnung ist links zu sehen. Darunter ist ein damit erzeugtes Bild wiedergegeben.

Im nachfolgenden Bild links ist eine Diatomee aus horizontaler Blickrichtung skizziert (Valvarebene). Die Enden der Diatomee besitzen offensichtlich hydrophobe Eigenschaften, die zur Verformung der Wasseroberfläche führen und ihr einen Auftrieb verleihen, wie man ihn etwa vom Wasserläufer kennt.

Wang Y et al. (2012) haben festgestellt, dass Valven von Coscinodiscus sp. auf Wasseroberflächen schwimmen. Es wird jedoch nicht über die Fähigkeit lebender Diatomeen zum Schwimmen berichtet. Auch hier ist Hydrophobie die Ursache. Nach Untersuchung gereinigter Valven kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die Hydrophobie auf der konvexen Form und 40 nm großen Siebporen beruht. Ob diese Erklärung auch für das Schwimmen lebender Nitzschia sigmoidea zutrifft, halte ich für eine offene Frage. Die Strukturen der Valven unterscheiden sich. Zudem besitzen lebende Diatomeen einen Mantel aus EPS, der den hydrophoben Effekt von Siebporen verhindern könnte. Für gut möglich halte ich, dass EPS, das an den apikalen Poren ausgeschieden wird, hydrophobe Eigenschaften besitzt. Mit den Hilfsmitteln, die mir zur Verfügung stehen, kann ich die Frage nach der Natur der Hydrophobie nicht beantworten. Es würde mich freuen, wenn diese Frage von Besuchern der Seite aufgegriffen würde.

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Kulturen von Nitzschia sigmoidea nach einigen Monaten die Fähigkeit zum Schwimmen verloren. Zunächst wurden die Muster zusammenhängender Diatomeen auf der Wasseroberfläche weniger regelmäßig und verschwanden schließlich vollständig. Die schwimmenden Diatomeen lagen nicht mehr grundsätzlich nebeneinander, sondern immer häufiger über Kreuz und gelegentlich hingen sie nur mit einem Ende an der Wasseroberfläche. Später verringert sich zusehends der Anteil von Diatomeen an der Wasseroberfläche. Über die Ursache kann ich derzeit nur spekulieren. Gerade beobachte ich wieder diese nachlassende Hydrophobie. Im Video links (4-facher Zeitraffer) ist eine Kultur zu sehen, bei der das Phänomen bereits deutlich zu erkennen ist.
 

Attraktive Kräfte zwischen Diatomeen an der Wasseroberfläche

Beim Betrachten der Muster, die schwimmende Nitzschia sigmoidea bilden, sticht ins Auge, dass die Diatomeen sehr häufig mit den Apizes aneinander liegen. Dies führt zu oft parallel liegenden Diatomeen, aber auch zu sternförmigen, linear verketteten und polygonalen Anordnungen. An diesen Strukturen können sogar tote Diatomeen beteiligt sein. Auch Wang Y et al. (2012) berichten von der Ausbildung regelmäßiger Strukturen bei Coscinodiscus. Dies ist eine Folge der hydrophoben Eigenschaften. Lagern sich schwimmende hydrophobe Körper aneinander, so wird Energie an die Umgebung abgegeben. Das System strebt diesen Zustand minimaler Energie an. Dieses Phänomen des „Spreitens“ ist seit langer Zeit bekannt. Wang Y et al. (2012) nennen diesen Effekt „Selbstmontage“ (self-assembly).

Man kann ein solches Zusammenlagern gut beobachten, wenn man Bärlappsporen (Lycopodium) auf eine Wasseroberfläche streut. Im Video links (4-facher Zeitraffer) ist dies zu sehen. Bemerkenswert ist, dass ab und an ein bestehender Kontakt zwischen Bärlappsporen aufgebrochen wird. Insgesamt wird in dem Vielteilchensystem dabei Energie abgegeben, indem an anderer Stelle zum Beispiel mehrere andere Kontakte geschaffen werden. Zur Erklärung der Abläufe muss man das Vielteilchensystem betrachten.

Zwischen hydrophoben Körpern herrscht an der Wasseroberfläche also eine attraktive Wechselwirkung. Konkret besteht in diesem Fall eine attraktive Kraft zwischen den Enden der Diatomeen. Ein ähnliches Verhalten würde sich ergeben, wenn die Enden der Diatomeen hydrophil wären, denn auch zwischen hydrophilen schwimmenden Gebilden gibt es Attraktion. Zwischen hydrophoben und hydrophilen Körpern herrscht jedoch eine repulsive Kraft. Die folgende Zeichnung zeigt zwei Diatomeen in der Valvarebene mit der resultierenden Wasseroberfläche.

zwei verbundene Diatomeen mit Wasseroberfläche

Die Wasseroberfläche besitzt eine niedrigere Energie als bei zwei getrennten Diatomeen.

Eine analytische Darstellung des Kraftgesetzes wird man angesichts der Form der Diatomee sicherlich nicht angeben können. Eine vereinfachende Modellierung besteht darin, dass man die Diatomee durch zwei rotationsymmetrische hydrophobe Partikel ersetzt, die durch einen Stab verbunden sind, welcher die Länge der Diatomee besitzt. Leider ist mir auch für diesen Fall keine analytische Form des Kraftgesetzes bekannt.

Zur experimentellen Bestimmung der attraktiven Wechselwirkung kann man die Bewegung von Diatomeen untersuchen, die sich aufeinander zu bewegen oder die Bewegung eines hydrophoben Partikels, wie Bärlappsporen in der Nähe einer Diatomee. Unter der plausiblen Annahme, dass man in der Bewegungsgleichung die Trägheitskraft vernachlässigen kann und Stokessche Gleichung gilt, ist die Geschwindigkeit proportional zur Kraft. Dies habe ich bisher nicht systematisch durchgeführt. Im Bild links ist die Geschwindigkeit einer Diatomee, die proportional zur Kraft ist, gegen den Abstand zweier sich nähernder Diatomeen aufgetragen. Dies ist ein exemplarisches Ergebnis, bei dem nicht sichergestellt ist, dass sich die Wasseroberfläche in ausreichender Ruhe befindet. Zudem ist die zeitliche Auflösung in der Nähe des Zusammenstoßes nicht ausreichend. Das Bild soll nur das Prinzip des Verfahrens illustrieren.

Wie eingangs erwähnt, weisen nicht alle Diatomeen einen ausgeprägten hydrophoben Apex auf. Es genügt dann zum Treiben an der Wasseroberfläche, aber die attraktive Wechselwirkung ist an der Bewegung kaum erkennbar. Es gibt auch systematische Unterschiede zwischen der Stärke der Hydrophobie der Diatomeen von unterschiedlichen Fundorten. Dies äußert sich in der Exaktheit der Muster der Bewegungsabläufe.

 

Wang Y, Pan J, Cai J, Zhang D (2012), Floating assembly of diatom Coscinodiscus sp. microshells. Biochem Biophys Res Commun 420(1):1–5